Geschichten

24
Okt
2012

Gute Bremsen

"Und dann", erzählte er aufgeregt, "als ich auf dem Boden aufschlug dachte ich echt, jetzt rollt noch der Laster über mich drüber - ich hab schon die Hände instinktiv über den Kopf verschränkt. Aber zum Glück war da noch genug Platz - grade so, hätte ich später gebremst wär ich wohl voll drunter gelandet". Die eine Hand gestikulierte wild dabei, die andere, ruhiggestellt durch den Tapeverband an der Schulter zuckte nur ein wenig mit. Er grinste bei der Schilderung, die er offenbar unterhaltsam fand.

Sie hingegen versuchte, ihr Entsetzen angesichts der Enthüllung, dass sie nur um einen Sekundenbruchteil dem Witwentum entgangen war, zu verbergen und entgegnete nur "Toll Schatz! Da haben wir ja wirklich nochmal Glück gehabt". "Ja", sagte er "und ich am Fahrrad gute Bremsen".

Was lernen wir daraus: Ingenieure glauben an gute Bremsen. Andere Leute glauben an Schutzengel.

17
Okt
2012

Der erste Moment

So saßen sie nebeneinander, auf der Rückbank des Wagens, da es für die Fortsetzung des Spaziergangs zu kalt geworden war. Die Gefühlslage hatten sie ausführlich besprochen, sein Bedauern darüber, dass er weder zur ihr gestanden, noch ihr seine Gefühle gestanden hatte wurde ebenso geäußert wie ihre ambivalenten, im Pflichtgeflecht einer anderen Beziehung steckenden Empfindungen. Die Lage war also klar, die Zäune aufgestellt, die Dämme aufgeschüttet - als er, getrieben von Verzweiflung einen letzten Versuch des Durchdringens unternahm und seine Hand nach ihrer ausstreckte. Kaum, dass er sie berührt hatte zog er sie wieder fort, zweifelsohne als Reaktion auf ihre abwehrende Geste und ihr flehendes, tränenersticktes "Bitte nicht. Bitte berühre mich nicht".

Dies war der erste Moment zwischen ihnen, der sich auf ewig in ihr einbrannte. Es sollte viel später, Jahre später, noch weitere Momente gegeben - ein unerwarteter Kuss auf ihre Wange bei einer Abschiedsumarmung, ihre sanft tröstende Hand auf seiner Schulter, ein unschuldiges Unterhaken beim Runtergehen eines Hangs in der Dunkelheit, ein sekundenbruchteillanges zartes gegenseitiges Umfassen der Hände. Momente, die sie einer bittersüßen Schatulle ihres Herzens aufbewahrte. Momente, die sie niemals vergessen würde.

Doch es war immer dieser erste Moment, an den sie zurückdachte, wenn sie sich die Frage stellte, an welchen Punkt ihres Lebens sie sich zurückversetzen lassen würde um dessen Verlauf zu ändern, hätte sie eine magische Zeitmaschine. Ob es für sie ein Glück oder ein Pech war, dass Zeitmaschinen noch nicht erfunden worden waren - das wusste sie auch 15 Jahre später immer noch nicht.

12
Okt
2012

Der Bleistift

"Soso", dachte er belustigt, "soso, der Bleistift, den Hans Castorp sich im Zauberberg ausgeliehen hat, ist also ein Phallussymbol. Sagt zumindest wikipedia."

Er wusste gar nicht mehr, wie er eigentlich dorthin gekommen war, auf diese Seite - die Vorlesung war langweilig, das Laptop willig, das Uni-WLAN kostenlos, er war abgeschweift. Sein Blick wanderte durch den Saal, und blieb wie gewöhnlich am Hinterkopf der Frau hängen, die wie immer in der ersten Reihe saß. Ihr Haar, das rotblonde Haar, das ihn an Madame Chauchat denken ließ, war heute hochgesteckt und ließ ihren langen Nacken frei. Sie schien völlig konzentriert und schrieb leise tippend eifrig mit.

"Schade", dachte er später, als alle begannen einzupacken, "schade dass fast niemand mehr per Hand mitschreibt - sonst könnte ich sie irgendwann bitten, mir einen Bleistift auszuleihen." Aber er wusste, dass er sich so oder so, Laptop oder Bleistift, niemals trauen würde und auch dieses Mädchen lieber weiter aus der sicheren Ferne anbeten würde.

10
Okt
2012

Der Zeiterfassungscomputer

Früher, als sie noch ganz neu in der Firma war, gab es Karten mit Magnetstreifen. Jeden Morgen zu Arbeitsbeginn und nach Feierabend wurden sie durch einen Schlitz an einem vorsintflutlich anmutenden Kasten gezogen, es piepte kurz, und die Anwesenheit wurde auf einem für das niedere Fußvolk nicht zugänglichen Server gespeichert. Aber als mehr und mehr Karten kaputt gingen und nicht ersetzt werden konnten, weil die Herstellerfirma schon längst in Konkurs gegangen war, musste eine andere Lösung her. Das niedere Fußvolk sollte nun die Anwesenheitsfunktion der Produktivitätssoftware verwenden. Dies führte beim niederen Fußvolk zu leisem Murren, hieß es doch, dass man jeden Tag die Minuten, die zwischen Betreten des Gebäudes, Hochfahren des Rechners, dem ersten Klick sowie dann nach Feierabend dem zweiten Klick, Runterfahren des Rechners und dem Verlassen des Gebäudes vergingen, verschenkte.

Als das Murren größer und größer wurde, entschloss sich die Obrigkeit, dass das so tatsächlich nicht weitergehen könne. Man berief eine große Versammlung ein und versprach, es würde bald alles viel besser werden, man werde ein neues System anschaffen, dass nicht nur berührungsfrei mit Chips arbeiten, sondern sogar mit der Produktivitätssoftware sprechen und damit Urlaubstage, Kranktage, Dienstreisen und mehr verwalten könne. Das Fußvolk mochte das nicht direkt glauben, war es doch von der Obrigkeit an leere Versprechen gewöhnt. Doch nach ein paar Tagen begannen fleißige Handwerker tatsächlich damit, Kabel zu verlegen, die Wand aufzustemmen - und eines Morgens hing dort ein neuer kleiner Zeiterfassungscomputer. Er glänzte und strahlte, und auch das Fußvolk bewunderte ihn gebührlich. Die Obrigkeit erklärte, es sei nur eine Frage von Tagen, bis er tatsächlich in Betrieb genommen werden und all die noblen Aufgaben verrichten sollte, für die er bestimmt war.

Das war vor 3 Jahren.

"Manchmal", dachte sie, während sie ihren Kaffee trank - schwarz, denn die Milch war wieder mal aus und niemand hatte für Nachschub gesorgt - "manchmal glaube ich, dieser Kasten ist das Sinnbild für alles, was in dieser Firma falsch läuft." Als sie nach Hause ging, schaute sie sich verstohlen im Flur um, ob sie auch niemand beobachtete, holte ein feuchtes Tuch aus ihrer Tasche, wischte die dicke Staubschicht von dem kleinen Zeiterfassungscomputer und tätschelte ihn kurz, damit er sich nicht mehr ganz so traurig fühlte.
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